... ist der wohl wichtigste Tag im Kalender eines "Ganserts", so unsere Bezeichnung für die Mitglieder. Schließlich ist es der vermutete Jahrestag, an dem die zerstrittenen Verehrer der drallen Gänsemagd wieder zu alter Freundschaft zurück fanden. Wie darf man sich den Ablauf des 2.Januar vorstellen?
Im Schutze der winterlichen Dunkelheit streben bis zu vierzig weiß gewandete mehr oder weniger würdige Herren dem Gänsestall zu. Dies ist seit einigen Jahren das "Erbacher Brauhaus", der uralte Traditionsstall "zum Eck" hat vor geraumer Zeit den Betrieb leider eingestellt. Pünktlich um 1800 Uhr begrüßt der 1.Sitzvorzende im Sternensaal des Brauhauses, jetzt aber "Gänsestall" genannt, seine Vereinskameraden, zumeist sehr langatmig, aber engagiert. Die "Schnatterer" lauschen den Worten ihres Oberganserts ergriffen oder auch nicht und richten ein letztes Mal ihrer Gewänder: das obligatorische weiße Hemd mit dem Gansertnamen, eine Feder im teilweise kaum noch wahrnehmbaren Haupthaar. Und sie präparieren ihre Laternen, sehr dekorative Gebilde in Form einer an Blähungen leidenden Gans, voll elektrifiziert.
Es folgt ein erster Höhepunkt, nämlich die Aufnahmeprüfung eines neuen Mitgliedes. Sollte sich niemand um Aufnahme bemüht haben, wird dieser Tagesordnungspunkt mittels Verzehr geistiger Getränke lässig übergangen und der nächste Tagesordnungspunkt zelebriert...nämlich die Einnahme weiterer geistiger Getränke.
Nun aber die Aufnahme eines Jungganserts: Der Kandidat hat sich schon vor längerer Zeit beworben, seine Kandidatur wurde bei der letzten Jahreshauptversammlung bereits ausgiebig beschnattert und akzeptiert. Nun ist die wohl letzte große Hürde zu überwinden, die vor einer Aufnahme steht: die Aufnahmeprüfung: Zu diesem Zweck besteigt der Anwärter einen Stuhl und singt dort in luftiger Höhe das Vereinslied, auswendig und inbrünstig (mal mehr, mal weniger auswendig und inbrünstig).
.....hier der Text des musikalischen Meisterwerkes, das der Neugansert zum Vortrag bringt und später als Gansert mit seinen Mitschnatterern aus voller Kehle intoniert....
GÄNSGRETEL-LIED
Jeder will des Gennsgredel hawwe
jeder will das Gennsgredel hawwe
jeder will se robbe,
jeder will se zoppe,
jeder will des Gensgredel hawwe
Der zweite Vers geht im Wesentlichen auf die Bedürfnisse der Mitbürger ein, die des Erbacher Dialektes nicht mächtig sind:
Jeder möcht das Gänsegretchen habfen
Jeder möcht das Gänsegretchen habfen
jeder möcht's rupfen
jeder möcht's zupfen
jeder möcht das Gänsegretchen habfen
Der dritte Vers kommt denjenigen entgegen, die auch rustikaleren Formen der Erbacher Mundart gewachsen sind.
Jeder will des Gensgredel hauwn
jeder will des Gensgredel hauwn
jeder will se roppe, zoppe
jeder will se zsamme roppe,
jeder will des Gensgredel hauwn
Wer sich nach dem Lesen dieser Zeilen noch nicht mit Grausen abgewendet hat, kann sich diesen musikalischen Hochgenuss auch im Internet zu
Gemüte führen. Und zwar live und in Farbe... Bei "Youtube" möge der interessierte Gast als Suchbegriff "Gänsgretelverein" eingeben. Dort erwartet ihn aus der Reihe "Filme, die die Welt
nicht braucht" ein Clip, in dem zunächst der 1.Vorsitzende seine Ganserte sehr einschläfernd begrüßt und danach der Verein dieses Meisterwerk vorträgt. Der Clip ist so grottenschlecht, dass man ihn
schon wieder loben muss. Nichts für schwache Nerven....
Hier die Aufnahmeprüfung des Jahres 2014. Der entspannte Gesichtsausdruck aller Beteiligten läßt auf eine bestandene Prüfung schließen.
Nach der Aufnahmezeremonie, die mit der Verleihung des Ganserthemdes und des Gansertnamens (jedes Mitglied trägt einen Namen, der im Zusammenhang mit Beruf, Hobby oder sonstigen Auffälligkeiten steht, es gibt einen Büttgansert, Morsegansert, Formengansert, Schafsgansert usw.) entspannen die Schnatterer bei einem weiteren geistigen Getränk und bereiten sich damit auf den Marsch durch die Innenstadt vor
Der Verein begibt sich nun auf den Weg zum Badbrunnen, um dort öffentlichkeitswirksam die eigentliche Taufe des Neulings zu feiern. Getauft wird er mit dem geweihten Wasser eben jenes Brunnens, der gewissermassen das spirituelle Zentrum des Vereins bildet. Wobei "spirituell" direkt von "Spirituosen" abgeleitet werden darf.....
Merkwürdige Bräuche fremder Völker? So sieht man das nur in Michelstadt, in Erbach ist dieser Aufmarsch ein Stück Normalität. Zumindest für die vierzig Mitglieder des Vereins, in der Restbevölkerung der Region scheiden sich zu diesem Thema die Geister.......
Der Marsch der weißgewandeten Schar (wegen dieser Gewandung auch gerne mal "Kuh Glucks Klan für Arme" genannt) führt durch das Städtel und die Brunnenstraße zum Badbrunnen. Immer begleitet von zahlreichen Zuschauern, die sich unterteilen in ausgesprochene Fans ("Das es sowas Schönes heute noch gibt") und in ausgesprochene Kritiker ("Sowas Bescheuertes muss man lange suchen").
Am Badbrunnen werden die Ganserte von zahlreichen Angehörigen beider Zuschauerfraktionen erwartet, die bereits am Brunnen Aufstellung genommen haben. Die Ganserte gruppieren sich vor dem Brunnen und lauschen ebenso andächtig wie die Zuschauer den weisen Worten des 1.Sitzvorzenden, soweit diese zu verstehen sind...
Oben:Ganserte in den ersten Reihen, Zuschauer dahinter, so sieht das Bild vor dem Badbrunnen aus.
Unten: Sitzvorzender (zuständig für alles, wofür sich sonst niemand findet), Zuchtgansert (zuständig für Erziehung und Taufe der Neulinge) und Fahnengansert (zuständig für fliegende Fahnen aller Art) schauen auf die Menschenmenge herab, halten ihre Reden und ausserdem die Fahne fest.
Nachdem der Vorsitzende die Zuschauer und Ganserte mit gekonnt gemurmelten Vortrag auf das bevorstehende Geschehen eingestimmt und der Zuchtgansert mit fester Stimme stotternd die Vereinslegende verlesen hat, schreiten die Beteiligten zum eigentlichen Taufakt des Gansertanwärters. Der bedauernswerte Junggansert wird vom Zuchtgansert vor den Badbrunnen geführt und dort mehrfach mit Badbrunnenwasser übergossen, bei winterlichen Temperaturen immer wieder eine Freude für alle Anwesenden. Es bleibt dabei völlig dem Zuchtgansert überlassen, wie exzessiv seine Handgreiflichkeiten geraten. Über weitergehende Schäden an Leib und Leben der Täuflinge ist aber bisher noch nichts an die Öffentlichkeit gelangt....
Harte Sitten im Odenwald. Ein Junggansert wird dem strengen Taufzeremoniell unterzogen. Man beachte das Taufgefäß, ein "Puhlschepper", oder für Nicht-Odenwälder, ein Jauchegruben-Entleerungsgefäß. Welches übrigens vom Zuchtgansert am Morgen des Tauftages noch in seiner ursprünglichen Funktion verwendet wurde. So wird es zumindest erzählt....
Damit nähert sich die Zeremonie ihrem Ende. Die Zuschauer werden derweil von den Gansertgattinen mit geistigen Getränken versorgt, um sie (die Zuschauer, nicht die Gattinnen) vor dem Erfrierungstod zu bewahren. Ähnliche Vorsichtsmaßnahmen werden auch von den Ganserten praktiziert.
Nach Abschluß des Rituals marschiert der lustige Haufen singend und schnatternd zurück zum Gänsestall. Wobei auf dieser Strecke der Marktplatz überquert und das Denkmal des Grafen Franz dreimal umrundet wird. Anschließend, in den Stall zurückgekehrt, zelebrieren die Ganserte einen feuchtfröhlichen Abend, verzehren eine delikate Gänsekeule (was sonst?) und widmen sich dann inbrünstig der Pflege traditionellen Liedgutes. Zu diesem Zweck verfügt der Verein über eigene Liederbücher, deren Inhalt in allen nur möglichen schiefen Tonlagen zum Vortrag gelangt. Unterstützt vom Musikgansert, der mit seinem Matrosenharmonium...äh...Schifferklavier die Schar schon zuvor beim Marsch durch die Stadt sowohl laufend als auch musikalisch begleitet hatte. Die Feier, die an einen denkwürdigen Eifersuchtskonflikt und die folgende Versöhung vor über 180 Jahren erinnert, währt in der Regel bis in die frühen Morgenstunden. So werden am 3.Januar immer wieder einmal versprengte EInzelganserte beobachtet, die bei der Suche nach der heimatlichen Bettstatt teils beachtliche Hindernisse überwinden.
Rückmarsch zum Gänsestall. Es macht durchaus Sinn, dass die Veranstaltung am Abend in völliger Dunkelheit stattfindet. Zahllose Kleinkinder bleiben so vor einem Trauma bewahrt...
Dreimalige Umrundung des Franz-Denkmals. Wobei die Zahl der Umrundung sehr wetterabhängig ist und häufig verkürzt wahrgenommen wird. Ganserte reagieren in Sichtweite ihres Gänsestalls genauso wie Pferde in Sichtweite des Pferdestalls...
Drum singe, wem Gesang gegeben. Dieses Bild veranschaulicht trefflich die Bandbreite des vorgetragenen Liedgutes. Von "sehr engagiert" bis "leicht komatös" sind alle Darbietungs- formen vertreten.